Die Coronakrise und Stress: Wie kommt man wieder zur Ruhe?

Dienstag 28-April-2020



Seit März steht Deutschland, wie der Rest der Welt, im Bann des Virus SARS-CoV-2, und unser Leben hat sich von der Normalität weit entfernt. Innerhalb kürzester Zeit hat dieses Virus jeden mit großen Veränderungen konfrontiert. Unsicherheit in Sachen Gesundheit, Arbeit wird stillgelegt oder anders gestaltet, Social Distancing ist obligatorisch und es herrscht eine große finanzielle Unsicherheit.

 Nie zuvor sahen wir uns in so hohem Maße so vielen verschiedenen Stressoren gleichzeitig ausgesetzt. Es verwundert nicht, dass wir hierdurch Stress erfahren. Kurzfristiger Stress ist oft kein Problem, wird Stress jedoch chronisch, kann dies die Gesundheit beeinträchtigen. Zum Glück stehen Ihnen viele Möglichkeiten offen, Ihren Klienten dabei zu helfen, wieder zur Ruhe zu kommen.

 

Das neuroendokrinologische System

Wenn wir uns unser Stresssystem anschauen, sprechen wir eigentlich über zwei eng miteinander verbundene Systeme. Dabei handelt es sich um das endokrine System (das Hormonsystem) und das neurologische System (das Nervensystem) oder, kombiniert, das neuroendokrinologische System. Zweck dieses Systems ist es, das normale dynamische Gleichgewicht in unserem Körper, die sogenannte Homöostase, zu überwachen. Wir sprechen von Gesundheit, wenn der Körper nach jeder Beeinträchtigung des Gleichgewichts - egal, durch welche Ursache - jedes Mal wieder in die Homöostase zurückkehren kann. Eine Beeinträchtigung unserer Körperprozesse ist kein Problem, wenn diese rechtzeitig wieder behoben wird. Der Stressor bringt diese Prozesse dann nicht chronisch aus dem Gleichgewicht. Mehr noch: Kurzfristige (heftige) Beeinträchtigungen sorgen dafür, dass unsere Körpersysteme flexibel bleiben und das Vermögen, sich an sich verändernde Umstände anzupassen, bewahrt bleibt.

 

Die Stressreaktion

Jedes Mal, wenn der Körper die Homöostase verlässt, beginnt das Stresssystem zu wirken. Botenstoffe werden an verschiedene Systeme des Körpers geschickt, die Prozesse in Gang setzen, um die Beeinträchtigung des Gleichgewichts aufzuheben und wieder in die Homöostase zurückzukehren. Neurologische Botenstoffe (Neurotransmitter) kommunizieren über Nervenbahnen, während endokrine Botenstoffe (Hormone) ihre Informationen über das Blut und die Hirnflüssigkeit weiterleiten. Beide nutzen unterschiedliche Wege, aber mit demselben Ziel. Das Stresssystem wird aktiv, wenn das Gehirn Informationen erhält, auf die eine Reaktion erforderlich ist. Diese Informationen können wir aus unserem Körperinneren wahrnehmen, beispielsweise die Anwesenheit von Bakterien oder Viren. Allerdings können auch Emotionen und Gedanken Stressreaktionen auslösen. Dieser Zeitraum einer drohenden oder tatsächlichen Infektion mit dem neuen Coronavirus und einer darauffolgenden Erkrankung an COVID 19 konfrontiert uns nicht nur mit einem unbekannten und daher angsteinflößenden Virus, sondern auch mit diversen Emotionen und Gedanken - über das Virus und über soziale und finanzielle Unsicherheit. Diese Stressoren beeinflussen das Stresssystem. Wenn wir uns hiervon nicht schnell erholen können, kann der Einfluss dieser Stressoren chronisch werden, woraus eine langfristige Aktivierung des Stresssystems resultiert.

 

Folgen der Stressreaktion

Wird eine "Gefahr" wahrgenommen, löst das sympathische Nervensystem die erste Phase der Stressreaktion aus. Adrenalin wird freigesetzt, um Energie freizugeben. Diese Energie wird für die Handlung benötigt, die erfolgen muss: kämpfen oder flüchten. Blutdruck und Herzfrequenz steigen und die normalerweise von den Tight Junctions oder Schlussleisten verschlossenen Barrieren werden geöffnet. So halten die Barrieren weniger Glukose, Natrium und Wasser zurück und diese Stoffe können vermehrt in den Körper gelangen, um den Energiebedarf zu decken.

 

Adrenalin initiiert dann die Produktion von Cortisol durch Aktivierung der HPA-Achse (Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse), woraufhin die Nebennieren größere Mengen von Cortisol produzieren und ausscheiden. Cortisol übernimmt nun die Aufgabe des Adrenalins und liefert dem Körper in Stresssituationen genug Energie. Hält die Stressreaktion länger an, wird vor allem auch mehr Cortisol produziert. Es liegt weiterhin ein erhöhter Energiebedarf vor, um die erhöhte Einsatzbereitschaft aufrechtzuerhalten. Der Körper reagiert darauf, in dem er die Durchlässigkeit der Körperbarrieren für Glukose, Natrium und Wasser langfristig erhöht. Die physiologische Antwort auf den gesteigerten Energiebedarf entwickelt sich jedoch langfristig zu einem Risikofaktor, der Krankheiten auslösen kann. Chronischer Stress erhöht so das Risiko eines Eindringens von Bakterien und Viren. Nicht nur die Därme werden vermehrt durchlässig, auch Mund und Lunge. Die Sorgen über das neue Coronavirus und die Unsicherheit bezüglich unserer Situation können uns also anfälliger für das Virus machen.

Das sympathische und das parasympathische Nervensystem

Während das sympathische Nervensystem bei der Stressreaktion eine aktivierende Funktion hat, wirkt das parasympathische Nervensystem hemmend. Die Neurotransmitter, die bei der Stressreaktion beruhigend wirken können, sind Acetylcholin und GABA. Acetylcholin sorgt für den Ruhezustand im Körper. Dieser Botenstoff sorgt unter anderem für die Impulsübertragung von den motorischen Nerven auf die Skelettmuskeln. GABA hemmt die neuronale Aktivität im Gehirn. Das sorgt für Ruhe im Kopf. Beide Neurotransmitter haben beruhigende Eigenschaften. Unter physiologischen Bedingungen unterdrückt der Parasympathikus den Sympathikus aktiv. Kommt ein Stressreiz, fällt diese Inhibition weg und der Sympathikus muss aktiv werden. Fällt der Stressor weg, gewinnt der Parasympathikus erneut die Oberhand. Bei chronischem Stress gelingt es dem Parasympathikus oft nicht, erneut die Oberhand zu gewinnen, wodurch der Sympathikus aktiv bleibt. Um das Stresssystem zu beruhigen, muss also gerade der Parasympathikus stimuliert werden.

 

Interventionen zur Beruhigung des Stresssystems

Es gibt gute Interventionen, die Sie Ihrem Klienten zur Stressreduktion empfehlen können. Nachfolgend die Wichtigsten:

 

Akzeptanz: Am effektivsten ist natürlich die Aufhebung des Stressors. Allerdings lässt sich ein Stressor wie die Bedrohung durch COVID 19 nicht einfach beseitigen. In diesem Fall empfiehlt es sich, die Situation zu akzeptieren und zu schauen, welche Interventionen zur Stressminimierung ergänzend erfolgen können.

 

Körperkontakt: Kuscheln Sie genug mit Familienmitgliedern. Berührungen anderer Menschen, insbesondere Haut-zu-Haut- sowie Augenkontakt, lösen die Produktion von Oxytocin aus, einem Neurotransmitter, der stark stressreduzierend wirkt.

 

Sozialer Kontakt: Sorgen Sie für ausreichend sozialen Kontakt, um Ihr Herz auszuschütten. Gespräche über Erfahrungen sorgen dafür, dass alles im Gehirn einen Platz erhält und dass Ruhe im Kopf einkehrt. Versuchen Sie, sich von eingreifenden oder traumatisierenden Ereignissen zu distanzieren.

 

Meditation: Einer der am besten untersuchten und bewährtesten Wege, das Stresssystem zu beruhigen, ist die Meditation. Jeden Tag circa 20 Minuten Meditation ist wunderbar, um Körper und Geist zur Ruhe kommen zu lassen. Online finden Sie auf diversen Plattformen diverse Meditationen mit Begleitung.

 

Adaptogene Pflanzen: Das Stresssystem kann auch mithilfe von adaptogenen Pflanzen zur Ruhe gebracht werden. Adaptogene Pflanzen enthalten natürliche Stoffe, die die Widerstandskraft in Stresssituationen erhöhen. Sie helfen, sowohl die physische als auch die mentale Leistung zu steigern und fördern die Homöostase des Körpers. Außerdem beeinflussen sie Krankheits- und Alterungsprozesse durch ihren Einfluss auf (chronischen) Stress. Adaptogene Pflanzen, die aus diesen Gründen ein sehr breites Einsatzgebiet haben, sind:

• Eleutherococcus senticosus (Borstige Taigawurzel)

• Schisandra chinensis (Chinesisches Spaltkörbchen)

• Withania somnifera (Ashwagandha, Schlafbeere)

• Panax ginseng (Echter Ginseng)

• Panax quinquefolius (Amerikanischer Ginseng)

• Rhodiola rosea (Rosenwurz)

• Ginkgo biloba (Ginkgo)

 

Cholin: Eine andere Art, den Parasympathikus zu unterstützen, ist eine erhöhte Einnahme von Cholin. Die empfohlene Tagesdosis Cholin beträgt 400-1200 mg. Cholin ist ein Baustein von Acetylcholin, enthalten in den folgenden Nährstoffquellen:

•Mandeln

•Brokkoli (32 mg/100 g), Rosenkohl, Blumenkohl (25 mg/100 g)

•Lachs, Garnelen, Kabeljau (292 mg/100 g)

•Rindfleisch, Huhn, Leber

•Eier (1 hartgekochtes Ei: 113 mg)

•Pilze

 

GABA: Durch Optimierung des Neurotransmitters GABA wird auch der Parasympathikus unterstützt, und es kommt zu einer entspannenden Wirkung. Lesen Sie darüber mehr in unseren aktuellsten Artikeln:

Wie beruhigen Sie die HPA-Achse? GABA erklärt.

Der Wirkungsmechanismus von GABA.

 

Wissen in der Praxis

Ihre Klienten erfahren Stress, wenn unser Gehirn Veränderungen bemerkt, auf die reagiert werden muss. Stress dauert oft nur kurz und der Körper reagiert physiologisch auf diese Veränderungen. Hält der Stress an oder ist der Körper nicht zu einer adäquaten Reaktion in der Lage, wird Stress chronisch. Das kann zu Gesundheitsproblemen führen. Es ist wichtig, dass Ihr Klient sich dessen bewusst wird, dass Interventionen wie Akzeptanz, Körperkontakt, soziale Kontakte und Meditation existieren. Außerdem kann man auch adaptogene Pflanzen einsetzen, um das Stresssystem zu beruhigen. Des Weiteren ist eine Optimierung der Acetylcholin- und GABA-Pegel sinnvoll. Mit diesen Interventionen können Sie chronischen Stress bei Ihren Klienten eindämmen.

Literatur

?Badyaev, Alexander V. “CHAPTER 13 - Role of Stress in Evolution: From Individual Adaptability to Evolutionary Adaptation”. In Variation, onder redactie van Benedikt Hallgrímsson en Brian K. Hall, 277–302. Burlington: Academic Press, 2005. https://doi.org/10.1016/B978-012088777-4/50015-6.

Dhabhar, Firdaus S., William B. Malarkey, Eric Neri, en Bruce S. McEwen. “Stress-induced redistribution of immune cells – from barrack to boulevards to battlefields: A tale of three hormones – Curt Richter Award Winner “. Psychoneuroendocrinology 37, nr. 9 (september 2012): 1345–68. https://doi.org/10.1016/j.psyneuen.2012.05.008.

Glaser, Ronald, en Janice K. Kiecolt-Glaser. “Stress-Induced Immune Dysfunction: Implications for Health”. Nature Reviews. Immunology 5, nr. 3 (2005): 243–51. https://doi.org/10.1038/nri1571.

Goyal, Madhav, Sonal Singh, Erica M. S. Sibinga, Neda F. Gould, Anastasia Rowland-Seymour, Ritu Sharma, Zackary Berger, e.a. “Meditation Programs for Psychological Stress and Well-Being: A Systematic Review and Meta-Analysis”. JAMA Internal Medicine 174, nr. 3 (1 maart 2014): 357. https://doi.org/10.1001/jamainternmed.2013.13018.

Kumsta, Robert, en Markus Heinrichs. “Oxytocin, Stress and Social Behavior: Neurogenetics of the Human Oxytocin System”. Current Opinion in Neurobiology, Neurogenetics, 23, nr. 1 (februari 2013): 11–16. https://doi.org/10.1016/j.conb.2012.09.004.

Liu, Jean C. J., Adam J. Guastella, en Mark R. Dadds. “Effects of Oxytocin on Human Social Approach Measured Using Intimacy Equilibriums”. Hormones and Behavior 62, nr. 5 (1 november 2012): 585–91. https://doi.org/10.1016/j.yhbeh.2012.09.002.

McEwen, Bruce S. “Protective and Damaging Effects of Stress Mediators”. New England Journal of Medicine 338, nr. 3 (15 januari 1998): 171–79. https://doi.org/10.1056/NEJM199801153380307.

Ngo, Dai-Hung, en Thanh Sang Vo. “An Updated Review on Pharmaceutical Properties of Gamma-Aminobutyric Acid”. Molecules 24, nr. 15 (24 juli 2019): 2678. https://doi.org/10.3390/molecules24152678.

Panossian, Alexander, Georg Wikman, Punit Kaur, en Alexzander Asea. “Adaptogens Exert a Stress-Protective Effect by Modulation of Expression of Molecular Chaperones”. Phytomedicine: International Journal of Phytotherapy and Phytopharmacology 16, nr. 6–7 (juni 2009): 617–22. https://doi.org/10.1016/j.phymed.2008.12.003.’

Payne, Peter, Peter A. Levine, en Mardi A. Crane-Godreau. “Somatic Experiencing: Using Interoception and Proprioception as Core Elements of Trauma Therapy”. Frontiers in Psychology 6 (2015). https://doi.org/10.3389/fpsyg.2015.00093.

Segerstrom, Suzanne C., en Gregory E. Miller. “Psychological Stress and the Human Immune System: A Meta-Analytic Study of 30 Years of Inquiry”. Psychological bulletin 130, nr. 4 (juli 2004): 601–30. https://doi.org/10.1037/0033-2909.130.4.601.

Wiegant, F. A. C., S. Surinova, E. Ytsma, M. Langelaar-Makkinje, G. Wikman, en J. A. Post. “Plant Adaptogens Increase Lifespan and Stress Resistance in C. Elegans”. Biogerontology 10, nr. 1 (1 februari 2009): 27–42. https://doi.org/10.1007/s10522-008-9151-9.