„Im Sport gehen viele Spitzentalente durch Einsamkeit verloren“

Montag 24-Oktober-2016

MEINUNG

LEO PRUIMBOOM (DR. PHIL., UNIVERSITÄT GRONINGEN)
Evolutionärer Denker, Forscher und Gründer der klinischen Psycho-Neuro-Immunologie
Der Begründer der klinischen Psycho-Neuro-Immunologie Leo Pruimboom stellt mit Besorgnis fest, dass sich auch im Sport viele Menschen zutiefst einsam fühlen. „Und diese Menschen“, warnt er, „werden mit Sicherheit krank.“

 

Einsamkeit ist das Gefühl allein zu sein – auch unter vielen Menschen. Sie ist eines der traurigsten und schmerzhaftesten Gefühle, die einem Menschen widerfahren können.

Es gibt drei Arten von Einsamkeit.

1. Einsamkeit in Bezug auf den „engsten Kreis“. Dies sind die am nächsten stehenden Personen, enge Vertraute. Freunde, denen man seine tiefsten Gefühle offenbaren kann. Im Allgemeinen sind das etwa fünf Personen. Wenn sie fehlen, leidet man unter persönlicher Einsamkeit.

2. Einsamkeit in Bezug auf die „soziale Kerngruppe“. Diese bildet den zweiten Kreis.  Auch hierbei geht es um Menschen, die einem nahe stehen und denen man zum Beispiel ohne weiteres seine Kinder anvertrauen oder denen man Geld leihen würde, denen man jedoch nicht seine intimsten Gefühle anvertraut.

3. Einsamkeit in Bezug auf „erweiterte Zugehörigkeit“, die Teilnahme an einem größeren Ganzen wie zum Beispiel die Mitgliedschaft in einem Verein. Diese bildet den dritten Kreis.

 

„Alle drei Arten von Einsamkeit führen zu den gleichen psycho-immunologischen Veränderungen.“

Viele Menschen fühlen sich einsam, weil sie in ihrem Umfeld keine oder zu wenige Menschen finden, zu denen sie ein ausreichend vertrauliches Verhältnis aufbauen können, um sich in ihrer Gegenwart frei zu äußern und zu entfalten. Oft wird dann versucht, diesen Mangel über Facebook oder Twitter zu kompensieren. Aber die Bedürfnisse aller drei Kreise müssen gleichermaßen erfüllt sein, da alle drei Arten von Einsamkeit zu den gleichen psycho-immunologischen Veränderungen führen.

 

„Einsame Menschen werden mit Sicherheit krank.“

Es gibt zwei Arten von einsamen Menschen.

1. Diejenigen, die der Überzeugung sind, dass die Welt schlecht ist und man daher niemandem trauen kann. Dies sind die sogenannten Rückzügler.

2. Diejenigen, die ein so eigentümliches soziales Verhalten an den Tag legen, dass sie von anderen Menschen gemieden werden. Beim Sport denke ich hier zum Beispiel an eine britische Marathonläuferin, die bei den Olympischen Spielen 2004 in Athen aufgab, sich völlig deprimiert auf den Boden hockte und sich von niemandem mehr ansprechen ließ. Wie sich herausstellte, hatte sie sich schon vorher durch ihr merkwürdiges Verhalten vollkommen von ihren Teamkollegen entfremdet. Diese Frau war schließlich so vereinsamt, dass sie am Ende trotz hervorragender Leistungen kein Marathon mehr laufen konnte. So verlassen fühlte sie sich.

Einsamkeit ist ein unabhängiger Risikofaktor für die Gesundheit. Das bedeutet: Einsame Menschen werden mit Sicherheit krank. Rauchen ist beispielsweise ein abhängiger Risikofaktor für die Gesundheit: Nicht jeder wird dadurch krank. 

 

„Im Profifußball gibt es erschreckend viele einsame Menschen, genau wie übrigens auch im Profitennis.“

Im Profifußball gibt es erschreckend viele einsame Menschen, genau wie übrigens auch im Profitennis. Denken Sie an die Spieler, die auf der Ersatzbank sitzen oder gar nicht erst zum Spiel ausgewählt wurden und die sich dann mehr oder weniger ausgeschlossen fühlen. Oder an die Spieler, die längere Zeit brauchen, um Verletzungen auszuheilen und dadurch nach und nach aus der Gruppe herausfallen.

Bei einsamen Menschen geht die Bildung des beruhigenden und entzündungshemmenden Hormons Cortisol immer weiter zurück und gleichzeitig verringert sich ihre Fähigkeit, auf dieses Hormon anzusprechen. Es steht immer weniger von diesem Hormon zur Verfügung und gleichzeitig wird immer schwächer darauf reagiert. Dadurch wird ein anderes System in Daueraktivität versetzt: Das sympathische Nervensystem, das Entzündungen verursacht und aggressives Verhalten auslöst.

Daher: Wenn man sich einsam und ausgeschlossen fühlt, sinkt der Cortisolspiegel und man wird aggressiv, wodurch sich die Mitmenschen noch stärker von einem abwenden und man folglich noch einsamer wird. Das ist der Teufelskreis der Einsamkeit.

 

„Bei Fußballern kann Misstrauen gegenüber dem Trainer oder dem Manager zu Vereinsamung führen.“

Um Menschen, die einsam sind, zu helfen, muss man zunächst herausfinden, welcher Kreis betroffen ist. Oft muss man feststellen, dass Menschen von einer falschen Lebenseinstellung ausgehen, beispielsweise indem sie glauben, dass man niemandem trauen kann, und so ihre Einsamkeit selbst verursachen.

Bei Fußballern kann Misstrauen gegenüber dem Trainer oder dem Manager zu Vereinsamung führen. Beispielsweise, wenn man den Verdacht hat, übergangen oder benachteiligt zu werden oder im Vergleich zu anderen zu schlecht bezahlt zu werden. Man fühlt sich ausgeschlossen, fängt an, sich immer öfter zu beklagen, woraufhin sich die anderen Spieler allmählich von einem zurückziehen, weil ihnen das dauernde „Jammern“ auf die Nerven geht. Das sind Teufelskreise, die sich sehr häufig einstellen.

 

„Offenbar ist der Mensch heutzutage im Durchschnitt erst ab dem neunundzwanzigsten Lebensjahr geistig voll erwachsen.“

Was man im Fußball außerdem recht häufig beobachten kann: Talentierte Jungs machen mit achtzehn Jahren den plötzlichen Sprung in ein eigenverantwortliches Leben und werden genauso behandelt, als ob sie schon dreißig waren. Dabei ist der Mensch heutzutage im Durchschnitt erst ab dem neunundzwanzigsten Lebensjahr geistig voll erwachsen. Daher sind sie zunächst noch wie Kinder, die sich warm und geborgen fühlen müssen.

Stattdessen werden sie aus ihrer vertrauten Umgebung herausgerissen, finden sich plötzlich in einem Erstliga-Klub oder anderswo wieder und fühlen sich erst einmal völlig einsam. Folglich beginnen sie nach Kreisen zu suchen, in denen sie sich zu Hause fühlen können, und das führt leider oft dazu, dass dabei schlechte Entscheidungen getroffen werden. 

 

„Das Gefühl von Einsamkeit führt zu einem schlechten Lebensstil: Falsche Ernährung, ungesunde Getränke, zu wenig Schlaf und das ganze weitere Paket von Risikofaktoren, die fast zwangsläufig in Verletzungen enden.“

Es ist erschreckend, wie viele Top-Sportlertalente plötzlich wieder verschwinden.

Zum Beispiel scheint Tennis eine Sportart zu sein, in der Einsamkeit weit verbreitet ist. Sechzehnjährige Kinder müssen bereits ATP-Punkte sammeln, was sie aber in den großen Turnieren noch nicht dürfen. Daher beginnen sie, auf eigene Faust durch kleinere ausländische Veranstaltungen zu tingeln. Während ihre Väter und Mütter daheim bleiben. Ich bin als Betreuer mit einigen solcher Talente mitgereist und habe selbst erlebt, wie schlecht es ihnen dabei geht.

Das Gefühl von Einsamkeit führt zu einem schlechten Lebensstil: Falsche Ernährung, ungesunde Getränke, zu wenig Schlaf und das ganze weitere Paket von Risikofaktoren, die fast zwangsläufig in Verletzungen enden.

So gehen viele begabte Neulinge wieder in der Menge verloren. Kinder, die zu Spitzensportlern herangereift wären, wäre es nicht versäumt worden, ihnen genügend Wärme und Sicherheit zu geben. Durch Einsamkeit gehen im Sport viele Spitzentalente verloren.

 

„Zwingt talentierte junge Sporttalente doch nicht dazu, schon mit sechzehn völlig selbstständig zu sein!“

Ich würde sagen: Der älteste Spieler einer Fußballmannschaft sollte einen solchen Neuling anfangs unter seine Fittiche nehmen. Sorgen Sie auch dafür, dass die Kinder, die nun auf einmal fern von der Familie sind, viel öfter ihre Eltern besuchen können oder lassen sie die Eltern öfter zu Besuch kommen.

So wird es zum Beispiel in der Fußballschule von Espanyol Barcelona gemacht. Dort dürfen die Eltern sogar bei den Jungs übernachten. Der Sohn eines meiner Freunde ist ein Spitzentalent und hat einen Vertrag bekommen. Seine Eltern leben in Lanzarote und ich habe ihnen geraten: Fahrt so oft wie möglich hin und bleibt, wenn möglich, eine Weile bei ihm.

Zwingt talentierte junge Sporttalente doch nicht dazu, schon mit sechzehn völlig selbstständig zu sein!

Denn: Was bewirkt fehlende familiäre Bindung im Gehirn eines Menschen?

Werden Kinder aus vaterlosen Familien, die mit einem Mangel an Bindung aufwachsen müssen, dadurch selbstständiger? Die meisten nicht. Viele von ihnen werden sogar kriminell.

 

„Fünfundachtzig Prozent der Gewalttäter stammen aus vaterlosen Familien.“

Bei der Gehirnentwicklung gilt, dass der Einfluss des Vaters über die spätere soziale Verträglichkeit der Kinder entscheidet und der der Mutter über die Motivation. Allerdings ist der Teil des Gehirns, den man von seiner Mutter erbt, der Teil, der für das soziale Verhalten verantwortlich ist, und der Teil, den man von seinem Vater erbt, ist für die Emotionen verantwortlich. Aber: Der Teil, den man von der Mutter erbt, entwickelt sich nur, wenn der Vater anwesend ist, und der Teil, den man vom Vater erbt, entwickelt sich nur, wenn die Mutter anwesend ist.

Sind beide vorhanden, dann ist alles perfekt: auf der einen Seite haben wir die Umgänglichkeit, die Tüchtigkeit und den Teamgeist der Mutter und auf der anderen Seite den Antrieb, die Motivation und die Durchsetzungsfähigkeit des Vaters.

Fehlt der Vater, dann fehlen der Familie die Muskeln.

Mit welchem Teil des Gehirns versucht man, dies auszugleichen?

Mit dem emotionalen Teil des Gehirns.

Das fördert eine Neigung zu aggressivem Verhalten und Kriminalität.

Und das hat dann dramatische Auswirkungen auf das Zusammenleben mit anderen Menschen. Sie kennen vielleicht die in den USA unter dem Schlagwort The One Hundred Billion Dollar Man erschienene Studie zum sogenannten Vater-Abwesenheits-Syndrom: Dieser Studie zufolge kostet die Abwesenheit des Vaters in der Familie die US-amerikanische Gesellschaft jedes Jahr einhundert Millionen Dollar. Fünfundachtzig Prozent der Gewalttäter stammen aus vaterlosen Familien.

 

„Je mehr Körperkontakt  zwischen den Mitgliedern eines Teams stattfindet, desto größer ist die Erfolgsquote des Teams.“

Was bedeutet das für den Mannschaftssport?

Je mehr Körperkontakt  zwischen den Mitgliedern eines Teams stattfindet, desto größer ist die Erfolgsquote des Teams. Dafür ist das Hormon Oxytocin verantwortlich. Dieses Hormon vermittelt ein Gefühl von Vertrauen und Zugehörigkeit.

Oxytocin wird gebildet, wenn der Mensch freundliche Kommunikation erfährt, mit positiver gegenseitiger Zuwendung, zum Beispiel durch Blick- und Körperkontakt. Es wird unter anderem in der Gehirnregion des Hypothalamus gebildet und wirkt über die Sinne. Wenn Oxytocin ausgeschüttet wird, werden gleichzeitig auch mehr Serotonin, mehr Endorphine und mehr Cortisol gebildet. Das sorgt dafür, dass man sich in der Gruppe wohl fühlt.

Schauen Sie sich doch mal an, wie zum Beispiel im Tennis die Brüder Bob und Mike Bryan das Doppel spielten: Andauernd haben sie sich umarmt, um sich gegenseitig anzufeuern. 

 

„Der Mensch ist ständig auf der Suche nach Oxytocin. Doch die Vereinzelung nimmt in der heutigen Gesellschaft ständig zu.“

Der Mensch ist ständig auf der Suche nach Oxytocin, doch die Vereinzelung nimmt in der heutigen Gesellschaft ständig zu. Daher brauchen wir wieder mehr Nähe, um unsere Verbundenheit zu spüren. Oxytocin ist ein Gegengift gegen die Einsamkeit. Wenn der Mensch Oxytocin bildet, fühlt er sich in der Gemeinschaft wohl.

Wenn wir uns beispielsweise Länder wie Schweden und Norwegen anschauen, in denen das größte Vertrauen zwischen den Menschen herrscht, dann sehen wir, dass es in genau diesen Ländern den Menschen auch am besten geht. Das Land, in dem die Menschen einander am wenigsten trauen, ist Brasilien, und dort geht es den Menschen folglich auch wesentlich schlechter.

Wenn wir darauf eine multivariate Analyse anwenden, so stellt sich heraus,

– dass in den Ländern, in denen das Vertrauen untereinander (und damit auch zur Regierung) am größten ist, die Umweltverschmutzung am niedrigsten ist,

– und dass in Brasilien, wo das gegenseitige Misstrauen enorm stark ist, die Belastung des menschlichen Organismus mit sogenannten externen synthetischen Östrogenen (aus Kunststoffen), die zu einer Blockierung der Oxytocinbildung führen, erschreckend hoch ist.

Interessant, nicht wahr?

 

„Bei den Tieren der Wildnis gilt es als eine Art von ungeschriebenem Gesetz, dass bei Wassermangel Angst und Aggression verschwinden und alle gleichzeitig trinken dürfen.“

Weiterhin haben wir untersucht, ob auch bei Tieren in der freien Natur Einsamkeit und Oxytocin eine Rolle spielen.

Es gibt auf der Welt Tausende von unterschiedlichen Nahrungsquellen, aber nur eine Quelle von Feuchtigkeit, nämlich Wasser – und was geschieht? Bei den Tieren der Wildnis gilt es als eine Art von ungeschriebenem Gesetz, dass bei Wassermangel Angst und Aggression verschwinden und alle gleichzeitig trinken dürfen. Dabei wird Oxytocin freigesetzt.

 

„Oxytocin ist außerdem ein Mittel gegen Sucht. Denn Wärme und Geborgenheit schützen davor, süchtig zu werden.“

Beim Menschen ist das gleiche Prinzip wirksam und das können wir für oxytocinerge Interventionen nutzen. Indem man Menschen veranlasst, intermittierend zu trinken, mit Zwischenpausen. Indem man den Mitgliedern eines Teams beim Sport beibringt, ihre Flüssigkeitsaufnahme so zu regulieren, dass möglichst viel Oxytocin freigesetzt wird, damit das Vertrauen gestärkt wird und ein echtes Team entsteht. Zum Beispiel können sie kurz in die Sauna gehen, um schnell ins Schwitzen zu kommen und dann nicht sofort etwas trinken. Dadurch entsteht eine kurzfristige leichte Dehydrierung. Wenn sie danach gemeinsam etwas trinken, schnellen die Oxytocinspiegel in die Höhe.

 

„Einsamkeit kann nicht nur zu Muskelrissen führen. Sie schädigt auch Herz und Gehirn und ist die Ursache einer Vielzahl von Schmerzen.“

Was übrigens auch sehr interessant ist:

Oxytocin schützt gegen die Sucht nach Kohlenhydraten. Denn Oxytocin ist auch ein Mittel gegen Sucht. Weil Wärme und Geborgenheit davor schützen, süchtig zu werden.

Kurzum: Einsamkeit kann nicht nur zu Muskelrissen führen. Sie schädigt auch Herz und Gehirn und ist die Ursache einer Vielzahl von Schmerzen und Verletzungen.

 

Interview von Christian Vandenabeele